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Als ich noch einmal Chris Lis Übersetzung von Aiki no Bujutsu* las, hatte ich eine kleine aber, wie ich finde, bedeutsame Erkenntnis. Der Artikel enthält folgenden entscheidenden Abschnitt:

Ein paar Tage später trank ich Tee im Haus von Sensei, als eine Aikido-Vorführung ausgestrahlt wurde.
Als die Vorführung vorbei war sagte Sensei: “Sie nennen es Aikido, aber sie benutzen überhaupt kein Aiki!”. Wie sich jeder denken kann fragte ich: “Sensei, was ist Aiki?”
Als ich das tat hielt Sensei einen Augenblick inne, holte tief Luft und sagte: “Aiki ist …”.
Ich hielt die Luft an und beobachtete Senseis Gesicht. Dann sprach er. Sensei erklärte mir: “Aiki wird geschrieben wie Aiki, aber seine Bedeutung ist Ki wo gassuru. Es muss gelesen werden als Ki wo gassuru.”
“Sensei! Ist Aiki dann Ki wo gassuru?” rief ich ohne nachzudenken. Sensei nickte und sagte, “Ja, das ist richtig.” Ich dankte Sensei aus tiefstem Herzen.

Ich hatte Chris Lis Übersetzung des Artikels bereits zuvor gelesen und über den Unterschied zwischen den Ausdrücken “awaseru” (合わせる) und “gassuru” (合する) nachgedacht. Als ich den Artikel zum zweiten Mal las und noch einmal über diese Ausdrücke nachdachte, kamen eine Menge unterschiedliche Dinge schließlich zusammen, die zuvor in meinem Kopf herumgeschwirrt waren.

Im modernen Aikido versteht man unter “Ki wo Awaseru” gewöhnlich, das Ki zweier Personen in einer sich gegenseitig ergänzenden Beziehung zusammen zu bringen. Sie “harmonieren” miteinander. Das ist die populäre Vorstellung von “Aiki” im Aikido.

Aber es ist wichtig zu erkennen, daß diese Vorstellung nicht die Definition einer In/Yo-Beziehung darstellt. In einer In/Yo-Beziehung ist das eine “Ki” Anlass für das Aufkommen des anderen “Ki” und umgekehrt. In/Yo bezeichnet eine kausale Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit, keine Beziehung der gegenseitigen Ergänzung. In einem harmonischen Musikakkord “komplimentieren” sich die Töne, aber trotzdem können sie auch für sich alleine stehen. Das ist ganz ähnlich wie “Ki wo Awaseru”. In In/Yo-Beziehungen ruft Yo In hervor und definiert es, und In ruft Yo hervor und definiert es. In/Yo-Beziehungen sind sich gegenseitig bedingend und sich gegenseitig hervorbringend. Das ist “Ki wo gassuru”.

In diesem Sinne definiert “Ki wo Gassuru” Aiki, weil “Gassuru” eine Einheit impliziert. So beschreibt es auch Chris Li in seiner “Anmerkung des Übersetzers”:

Morihei Ueshiba verwendete auch diese Lesart des Kanji für “Ai”, sowohl 1933 in seinem technischen Handbuch Aikijujutsu Densho als auch 1954 in dem technischen Handbuch Aikido Maki-no-Ichi, allerdings etwas deutlicher, indem er den Ausdruck “Inyo-gacchi” (陰陽合致) – “die Vereinigung von Yin und Yang” – verwendete.

Chris Li führt weiter aus:

Später (1963, in einer Rede während einer Vorführung im Hibiya Kokkaido) betonte er, dass dieser Prozess im eigenen Körper stattfindet, als er sagte: “In Aikido treten Izanagi no Mikoto und Izanami no Mikoto in den Körper dieses alten Mannes ein und bewegen sich durch ihn” (「合気道は、イザナギの尊 イザナミの尊が爺の体内に入り行っているのだ」) – Izanagi und Izanami stehen für Yin und Yang.

Als ich dies zum zweiten Mal las bemerkte ich, dass Ueshiba in dem obengenannten bildhaften Ausdruck, der sehr typisch für ihn ist, davon sprach, dass Izanagi und Izanami no Mikoto in seinen Körper traten. Geister oder Geistwesen in den Körper treten zu lassen war eine Omoto-Praxis. Und während Izanagi und Izanami In/Yo repräsentieren, war Ueshiba möglicherweise tatsächlich wörtlich von dem überzeugt, was er sagte. Er verwendet in dem Abschnitt den Begriff “karada”, was den physischen Körper eines Menschen bezeichnet.

Aber Ueshibas Verständnis beschränkte sich nicht auf die Omoto-Praxis, von Geistern besessen zu sein oder auf seinen eigenen Körper. Wie Chris Lie weiter schreibt:

Er drückte dies deutlich aus durch seine Verwendung von “Ten-chi-jin Aiki”, dem klassischen chinesischen Leitbild, das die “Kräfte” von “Himmel und Erde” (“Yin und Yang”) im Menschen (“jin”) “vereinigt” (“Aiki”).

Aikido ist der Weg und das Prinzip Himmel, Erde und den Menschen in Einklang zu bringen (Morihei Ueshiba – aus “Takemusu Aiki”, herausgegeben von Hideo Takahashi).

In diesen Beispielen ersetzt das Zeichen “jin” das Zeichen “karada”. Jin ist das Kanji für “Mensch”. Karada ist das Zeichen für den physischen Körper. Jin umfasst alles, was das Sein eines Menschen ausmacht.

Lesen wir noch einmal den letzten zitierten Satz mit unserem Verständnis von “gassuru”.

“Aikido ist der Weg und das Prinzip, Himmel, Erde und den Menschen in Einklang zu bringen.”

Wir erinnern uns, dass Himmel/Erde In/Yo sind und dass sie als Ni Ki in der Formel Ichi Rei, Ni Ki, San Gen, Shi Kon, Hachi Riki enthalten sind. Sie sind ein Ausdruck von Ichi Rei – Ein Geist als In/Yo – Ni/Ki. Und sie sind “Ki wo Gassuru”, was Aiki ist. Damit ist Aikido der Weg und das Prinzip In/Yo und Jin (die eigene Person) in Einklang zu bringen.

Dies liefert auch eine weitere Einsicht für eines der Kernprinzipien des Daito-ryu – Aiki-inyo-ho, die “Aiki Yin-Yang Methode”, oder in diesem Licht, eine “Methode, die Kräfte von Yin und Yang in Einklang zu bringen”, was der klassischen chinesischen Vereinigung von Gegensätzen entspricht, wie oben von Morihei Ueshiba zitiert.

Das Eine (Ichi Rei) offenbart sich als Zwei (Ni Ki), was sich als menschliche Wesen manifestiert. Damit gibt es San Gen (drei Quellen – Himmel, Erde, Menschen). Menschen manifestieren sich als vier Seelen (Shi Kon) oder vier Aspekte des Seins. Die Vier offenbaren sich als acht Kräfte (Hachi Riki).
Chris Li stellt abschließend fest:

Nishikido Sensei gab seinem Buch den Titel 合気の極み, “Der Inbegriff des Aiki”. Dabei haben die verwendeten Schriftzeichen 極み die Bedeutung “Höhe”/”Extrem(ität)” und werden im Taiji im Sinne von “Polarität”/”entgegengesetzte Pole” – 太極 – “höchste Polarität” verwendet, womit die Vereinigng der gegensätzlichen Kräfte von Yin und Yang ausgedrückt wird. Im klassischen chinesischen Leitbild wird Wuji – “Leere” zu Taiji, die Manifestation von Yin und Yang. Dieser Prozess wird von Morihei Ueshiba auch in Begriffen des Kotodama beschrieben.

Das ruft uns in Erinnerung, dass Aiki nicht zwei Dinge ist, sondern dass es eins ist, das zwei verschiedene Aspekte zum Ausdruck bringt. Das ist ein wichtiger Unterschied. Der Aiki-Körper ist nicht beschränkt auf den leiblichen Körper, der “Aiki ist”. Es ist die eigene Person (Jin), die sich als Aiki manifestiert. Auf dieses Verständnis von “Aiki-Körper” beziehungsweise das eigene Selbst als “Aiki” wird wiederum verwiesen wenn man an “Shi Kon” denkt, die vier Seelen, die einen Menschen ausmachen. Und nicht allzu überraschend setzen sich diese vier Seelen aus zwei In/Yo-Paaren zusammen, die unterschiedliche Manifestationen des eigenen Selbst sind.

Daher ist Jin (der Mensch) ein derart geeigneter Ausdruck. Menschen haben ein Empfinden ihres Seins. Der leibliche Körper ist ein vergänglicher Teil dessen, was ein menschliches Wesen ausmacht, aber er entspricht sicherlich nicht der Gesamtheit einer Person. Wenn man dies begreift, dann kann man sein eigenes Selbst als Ten Chi Jin, als eine Ten Chi Wesenheit auffassen.

Mit diesem Verständnis werden andere, deutlich esoterischere Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit Aiki (so etwa Aiki O Kami) leichter fassbar. Bevor wir aber versuchen, in die Bedeutung von Aiki O Kami abzutauchen, stellen wir eine kurze Nebenbetrachtung an.

Meist wird der Begriff Kami 神 übersetzt mit Göttlichkeit oder Gott. Aber für viele Leser entsteht dabei die Neigung, eine jüdisch-christliche Auffassung oder vielleicht auch ein neuplatonisches Verständnis von Göttlichkeit oder Gott damit zu verbinden. Diejenigen sind dann oft wie vor den Kopf gestoßen, wenn sie erleben, daß Bäume, Felsen, Berge etc. als Kami verehrt werden. Und die Annahme liegt dann nahe, dass Menschen, die Bäume, Felsen, Berge etc. als Kami betrachten, eine vergleichbare Auffassung von deren Göttlichkeit haben, wie sie in der jüdisch-christlichen-platonischen Geisteswelt besteht.

Es gibt sicher einige, die diesen Bezug herstellen oder diese Ansicht daraus ableiten. Menschen machen alle möglichen Dinge. Oder auch nicht. Vielleicht betrachten sie das Wesen und das Sein dieser Dinge in gleicher Weise wie die Meisten das Wesen oder das Sein eines Menschen betrachten. Normalerweise verstehen wir unter unserem gegenseitigen Wesen all das, was eine Person ausmacht und wovon wir denken, daß es zu der Person gehört. Ganz ähnlich besteht das Wesen eines Steins aus all dem was sein “Stein-Sein” ausmacht. Das Wesen eines Baums ist all das was ihn als Baum ausmacht. Das Wesen eines Berges ist all das was ihn als Berg ausmacht. Jeder Stein, jeder Baum, jeder Berg besitzt die einzigartigen wesentlichen (!) Eigenschaften seines Wesens, seines Seins, die ihn zu dem machen, was er ist. Diese spezifischen Arten des Seins von Steinen, Bäumen, Bergen usw. sind Teil und Ausdruck eines weniger spezifischen und universelleren Verständnisses des Seins von Stein, Baum, Berg usw. Sowohl das individuelle Wesen als auch das universelle Wesen können auf diese Weise als Kami verstanden werden. Überdies kann es Steine, Bäume, Berge usw. geben, die einen dazu bringen, inne zu halten und zu sagen: “DAS ist ein (Stein, Baum, Berg)!” Es sind diese “Musterexemplare” von Steinen, Bäumen, Bergen usw. die als im Wesen einzigartig betrachtet werden. In diesem Sinne können auch Menschen als Kami betrachtet werden. Jeder Mensch ist ein Wesen (oder Kami) zusammengesetzt aus verschiedenen Aspekten. Und wie es Musterexemplare von Steinen, Bäumen, Bergen etc. gibt, so können uns Menschen begegnen, deren Wesen uns dazu bringt zu sagen: “DAS ist ein wahrer Mensch!”

In diesem Kontext lässt sich Aiki O Kami als das Wesen des Aiki im weiteren universellen Sinne begreifen.

Mit diesem Verständnis erscheinen einige “spinnerte” Aussagen und Auffassungen in Bezug auf Aiki weniger schrullig. Man kann ein Ten Chi Jin sein, wenn das eigene Wesen Ten Chi ist. In gleicher Weise kann man ein Aiki Jin sein, wenn das eigene Wesen Aiki ist. Und weiter, da ein Ten Chi Jin oder ein Aiki Jin eben Aiki sind, kann man sagen “Ich bin Aiki“. Das ist genauso wie zu sagen “Ich bin witzig”, weil man eben witzig ist. Ein Aiki Jin wäre notwendigerweise Teil eines “umfassenderen Wesens von Aiki” und damit Teil von Aiki O Kami.

Wenn man diese Betrachtung weiter ausspinnt (wobei man zugegebenermaßen dem “Spinnerten” etwas näher kommt), kann man die Schriftzeichen für Aiki O Kami auch als Aiki Dai Jin lesen. Und mit etwas Gefallen an Wort- und Sprachspielen stellt man leicht die Beziehung zwischen Aiki Dai Jin und Aiki Jin her.

Abschließend sehe ich natürlich, daß all das als bloße Übung in philosophischem Dozieren durchgehen kann. Aber das muss es nicht. Diese Einsichten und Auffassungen (die nicht-spinnerten) haben unmittelbare Bedeutung für diejenigen, die behaupten, den Weg des Aiki oder des Aikido zu studieren.  Aiki war und ist in gleicher Weise real wie die Gravitation real war und ist, unabhängig davon, ob man dies anerkennt oder nicht. Und wie bei der Gravitation, wenn man anerkennt und erkennt was Aiki ist, kann man zunehmend studieren und verstehen und beginnen, Aiki für sich selbst zu nutzen. Wenn man im Laufe dieses Prozesses anfängt, Aiki im eigenen Geist/Körper zu manifestieren, wird man vermutlich beginnen, einen Aiki-Körper zu entwickeln. Und falls dies lange genug anhält, wird man irgendwann sagen können, daß man ein Aiki-Wesen ist (oder zumindest besitzt). Wenn man ein Aiki-Wesen ist, dann ist man definitionsgemäß ein Teil von und hat teil an Aiki O Kami.

Klar? Ki wo Gassuru ist Aiki und Aiki ist Ki wo Gassuru. Der Weg des Aiki ist der Weg des Ki wo Gassuru und der Weg des Ki wo Gassuru ist der Weg des Aiki. Das ist die ursprünliche Bedeutung des Ausdrucks Aikido, und daher wurde dieser Ausdruck auch sowohl von denjenigen verwendet, die eine Daito Ryu Herkunft besaßen, als auch von denjenigen, die Daito Ryu praktizierten. Die Verwirklichung und Manifestation dessen erfordert Shugyo. Aber nicht irgendein Shugyo, sondern Shugyo, welches Aiki hervorbringt und damit Ki wo Gassuru beinhaltet.

So, nun habt ihr einen Eindruck davon, was mich nachts wach hält.  – Allen

*) möglicherweise ein Flüchtigkeitsfehler. Christopher Li überschreibt seinen Artikel mit dem Titel “Ai no Bujutsu – Aiki and the Bujutsu of Love” – Anm. d. Übersetzers

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