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Nachdem ich eine kenntnisreiche Stellungnahme zu meinem Blog “Wichtige Übereinkünfte” erhalten habe, poste ich meine Antwort hier in der Hoffnung, damit weitere Klarheit zu schaffen:

Hi Fred,

Vielen Dank für deine Stellungnahme. Du sprichst darin ein paar wichtige Punkte an, die oft übersehen und/oder missverstanden werden.

Fred: Hi Allen, toller Blog,

Ich finde interessant, dass du den Atemi metsu boshi als Beispiel anführst. 

Dabei handelt es sich um den ersten Atemi in der Tomiki Serie. 

Wenn man die anderen 4 Atemi, die von Tomiki standardisiert wurden, anschaut, scheint jeweils die Störung des Gleichgewichts das Ziel zu sein. 

Ich zitiere hier aus einem Blog der die Historie von und die Absicht hinter den von Tomiki standardisierten Atemi zusammenfasst:

“Um 1956 herum führte Kenji Tomiki eine Randori-Methode in Aikido ein. Dies stellte den Versuch dar, eine sichere aber effiziente Sparring-Methode nach dem Vorbild des Kodokan Judō Randori zu schaffen.

Im Jujutsu der alten Schule war Atemi waza ein Angriff gegen lebenswichtige Punkte des menschlichen Körpers. Lebenswichtige Punkte anzugreifen, war eine Handlung, die zu Verletzung oder Tod führen konnte.

Kenji Tomiki bot eine zusätzliche Interpretation für die Anwendung von Atemi waza. Physiologische Schwächen des Körpers anzugreifen kann mit geringer physischer Wirkung ausgeführt werden.

Das Ziel der neuen Methode von “Atemi waza” war es, “Kuzushi” zu erzeugen und den Gegner mit geringstmöglichem Kraftaufwand zu werfen.”

https://studygrouptomikiaikido.blog/2023/05/13/atemi-waza-tomiki-style/

Für Kenji Tomiki hatte keine Notwendigkeit bestanden, Atemi waza in das “Jujutsu” zu integrieren, das er von Ueshiba Morihei erlernte. Atemi waza war schon seit geraumer Zeit integraler Bestandteil des Trainings. Tomikis ABÄNDERUNG sollte die früheren, tödlichen Atemi in eine “neue Methode von Atemi waza” zur Erzeugung von “Kuzushi” transformieren, um einen Gegner mit geringem Aufwand werfen zu können, ähnlich wie Kodokan Judo Randori.

Tomiki erlernte tödliche Atemi-Techniken zusammen mit “Jujutsu” von niemand anderem als Ueshiba Morihei. Heutzutage wird diese Tatsache gerne übersehen, nur oberflächlich betrachtet oder schlichtweg ignoriert, wahrscheinlich weil sie dem “Weg zur Harmonie” im Wege steht. Ueshiba Morihei und die Soldaten, die er während seiner aktiven Lehrzeit unterichtete, hatten keinerlei Zweifel an der Effektivität seiner Techniken im Zweikampf. Tatsächlich schrieb Tomiki Kenji während des Zweiten Weltkriegs nachweislich einen Brief an Admiral Takeshita, in dem er nahelegte, das Militär solle Ueshibas “Jujutsu” mehr Beachtung schenken als Judo aufgrund seiner überlegenen Anwendbarkeit im Zweikampf.

An dieser Stelle ist es interessant festzustellen, dass nicht nur Ueshiba Kisshomaru und Tohei Koichi nach dem Krieg die Inhalte und Trainingsmethoden von Aikido veränderten. Offensichtlich taten dies auch Tomiki Kenji und andere. Ironischerweise mögen sie alle ähnliche Beweggründe gehabt haben, die Kunst, wie sie sie von Ueshiba Morihei erlernt hatten, zu verändern, allerdings taten sie dies auf unterschiedliche Weise.

Die Änderungen beschränkten sich nicht lediglich auf Modifikationen von Techniken. Aufgrund der Komplexität und der Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Erlernen von Innerer Kraft (internal power) und Aiki ist es offensichtlich, dass zahlreiche Aspekte des Curriculums sowohl in Judo als auch in Aikido verändert oder sogar weggelassen wurden.

“Irgendwann nachdem er Morihei Ueshiba begegnet war, hatte Kenji Tomiki eine Unterredung mit Jigoro Kano über die spektakulären Leistungen, die Ueshiba ihm gegenüber gezeigt hatte. Kanos Antwort lautete – “früher gab es viele, die solche Dinge tun konnten, aber wie man es vermittelt, das ist die Frage!”

https://www.facebook.com/aikidosangenkai

Fred: In diesem Sinne ist Atemi eine Form von Kuzushi, und ein Gegner, auf den Kuzushi angewendet wurde, ist ohne Widerstand (und schutzlos gegenüber Aiki und anderen Techniken), bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hat. 

Nun, wir geraten hier ein wenig in eine semantische Debatte, aber “ate” bedeutet “treffen/schlagen” und “mi” ist “jemand”. Also bedeutet Atemi “jemandem” einen “Treffer” oder “Schlag” zu versetzen. Das Zeichen für Kuzushi bedeutet, einen “Gegner aus dem Gleichgewicht” zu bringen. Somit kann Atemi zu Kuzushi führen. Und Kuzushi kann das Ergebnis von Atemi sein. Aber Atemi ist keine Form von Kuzushi.

Worauf ich in meinem Blog hinaus wollte war: nach der Definition benötigt man KEIN Kuzushi, damit Aiki effektiv ist. Betrachtet man das Beispiel des Fahrrads, so besteht hier kein Bedarf oder Verlangen nach Kuzushi, aber Aiki ist vorhanden. [Vielleicht kann man argumentieren, dass ein ahnungsloser Passagier auf dem Fahrrad ein psychologisches Empfinden von Kuzushi hat. Aber ein Großteil von Aiki no Jutsu wirkt so. Ukes stabile eigenständige Dreieckstruktur wird von Toris Kreisstruktur “mitgenommen” (Aiki ähnlich wie beim Fahrrad) ohne zu wissen, wie und warum. Das ist so, weil Uke als ein ahnungsloser Passagier nicht notwendigerweise physisches Kuzushi erfährt aber sich trotzdem in Bewegung wiederfindet.]

Es ist allgemeiner Konsens, dass Kuzushi erforderlich ist, um anfällig für die Wirkungen einer Jujutsu und/oder Judo waza zu sein. Tsukuri, Kuzushi und Kake sind die gemeinsamen Elemente, die für Nage waza benötigt werden. Kuzushi wird in diesem Artikel von Tomiki Sensei behandelt: https://judoinfo.com/tomiki/ Alle drei Aspekte gelten als Standardelemente des Judo. https://www.bestjudo.com/blog/03236/khadaji/kuzushi-tsukuri-kake-fundamentals-judo

Hier sehen wir uns jetzt einem fundamentalen Rätsel in weiten Teilen des Daito Ryu und Aikido gegenüber. Sowohl Daito Ryu als auch Aikido enthielten, zumindest zu einer bestimmten Zeit, Jujutsu, Aiki Jujutsu und Aiki no Jutsu. Also sollte es nicht überraschen, wenn wir Elemente von Jujutsu in Daito Ryu und Aikido vorfinden. Und wenn das stimmt, dann sollten auch Tsukuri, Kuzushi und Kake in diesen Künsten am Werk sein.

Aiki no Jutsu kann es sowohl in Daito Ryu als auch in Aikido geben. Wenn es das tut, sollte man leicht die Attribute von Aiki finden können. Und wie bereits gesagt, benötigt Aiki nicht unbedingt die Elemente von Jujutsu. Aiki no Jutsu mag gelegentlich wie “schlechtes” Jujutsu erscheinen, fehlt ihm doch Tsukuri, Kuzushi und Kake. Aber das Bemerkenswerte an authentischem Aiki ist, dass es effektiv bleibt trotz dieser Unterschiede. Das ist es, was es so schwer macht, “gutes” Aiki no Jutsu auszumachen. Wir erinnern uns, dass Aiki nicht sichtbar ist. Nur die Wirkungen von Aiki sind sichtbar. Infolgedessen sieht Aiki no Jutsu häufig “fingiert” aus. Und was die Situation obendrein noch schlimmer macht ist, dass sich die selbstverkündenden Aiki-Fähigkeiten häufig als unehrlich und falsch herausstellen! Hingegen, diejenigen, die wirklich Aiki besitzen, fühlen sich definitiv authentisch an. Mit anderen Worten: man muss es fühlen! Übrigens, das hat nichts mit Aussagen zu tun wie: “Wenn ich wirklich Aiki einsetzen würde, müsste ich dich verletzen!”. Man kann ein Fahrrad fahren (Aiki verwenden) ohne “tödliche Techniken” einzusetzen.

Das führt uns zu Aiki Jujutsu. Es sollte nicht Wunder nehmen, dass wir Elemente von sowohl Jujutsu als auch Aiki am Werke finden. Also kann auch hier Tsukuri, Kuzushi und Kake vorliegen, so wie auch Aiki vorhanden sein sollte.

Sich in einer kriegerischen Situation (martial application) allein auf Aiki no Jutsu zu verlassen, erscheint mir riskant. “Auch Affen fallen von Bäumen.” Derselben Argumentation folgend: wenn jemand Aiki-Fähigkeiten besitzt, warum sich allein auf Jujutsu verlassen? Daher sollte es der Vernunft entsprechen, Aiki Jujutsu anzuwenden. Möglicherweise verwendeten Vertreter des Daito Ryu, einschließlich Ueshiba Morihei, deshalb den Begriff “Aiki Jujutsu” so häufig. Aber das ist bloß eine Vermutung meinerseits.

Die Mechanismen von Aiki unterscheiden sich von den Mechanismen von Jujutsu und Judo. Vergessen wir nicht, dass Jujutsu und Judo immer noch die Prinzipien von Aiki beinhalten können, so wie Aikido die Prinzipien von Jujutsu und Judo beinhalten kann. Die Tatsache, dass diese beiden oft durcheinander gebracht werden ist der eigentliche Gegenstand von TrueAiki.com. Es kommt häufig vor, dass ein meisterlicher Einsatz von Jujutsu und/oder Judo mit Aiki verwechselt wird. Trotzdem sind sie verschiedene Dinge. Wenn Daito Ryu seine Lehre in Jujutsu, Aikijujutsu und Aiki no Jutsu unterteilt, dann ist das offensichtlich. Dass der Butokukai eine eigene Kategorie geschaffen hat, um dem Rechnung zu tragen, was Ueshiba Morihei unterrichtete, spricht Bände bezüglich der gemeinsamen Auffassung, dass es tatsächlich andersartig war.

Fred: Kann man das als eine Erweiterung des von dir vorgebrachten Konzepts ansehen? 

Eigentlich, nein. Das denke ich nicht. Vielleicht ist es, wie Ueshibas “Jujutsu” von Tomiki Kenji modifiziert wurde, um der öffentlichen Auffassung besser dienlich zu sein. Allerdings sind sie qualitativ nicht mehr dieselbe Sache.

Es ist so, als ich Metsu Boshi aufbrachte, wollte ich nicht Tomiki Kenji zitieren, ich habe vielmehr Shirata Rinjiro zitiert. Natürlich muss man berücksichtigen, dass beide Schüler von Morihei Ueshiba waren. Er vermittelte beiden die fundamentale Form von Atemi. Diese Form von Atemi wurde später von Tomiki für den Wettkampf modifiziert, für manche wurde sie zum Lippenbekenntnis, von anderen wurde sie vollständig verworfen. Ueshiba Morihei beschrieb Atemi so: “Ein Schlag kann töten.”

Ganz offensichtlich machte sich O-Sensei nicht zur Gewohnheit, seine Schüler im Training zu töten. Meiner Meinung nach ist es gleichermaßen despektierlich über die vergangenen Worte und Handlungen von Ueshiba Morihei ein Urteil zu sprechen, wie seine Worte und Handlungen in der Gegenwart falsch wiederzugeben und darzustellen. Alle Fakten zu berücksichtigen, auch die möglicherweise unbequemen, ist entscheidend, wenn man vermeiden will, frühere Fehler zu wiederholen.

Krieg bringt immer Leid und Verlust, auch für die Sieger. Ueshiba Morihei hatte begriffen, dass es keine magische Kunst gibt, die die Unversehrtheit eines Jeden gewährleistet, der in eine gewaltsame Begegnung gerät. Bedenken wir, dass Ueshiba Morihei eine anhaltende Verletzung davontrug, als er einen Stich mit einer Mokuju erhalten hatte, nachdem er seine Schüler aufgefordert hatte, ihn jederzeit anzugreifen. Und Ueshibas stärkster Schüler zu der Zeit kam in einer Auseinandersetzung mit Japanischen Soldaten durch Bajonette zu Tode. So etwas wie einen “Unbezwingbaren Krieger” gibt es nicht. Dieses Wissen könnte einen motivieren, eine gewalttätige Konfrontation wann immer möglich zu vermeiden.

Ich halte es für wichtig, sich klarzumachen, dass Veränderung unausweichlich ist. Takeda Sokaku scheint verschiedenen Gruppen unterschiedliche Dinge gelehrt zu haben. Ueshiba Morihei tat dasselbe. Tomiki Kenji, Shirata Rinjiro, Ueshiba Kisshomaru, Tohei Koichi, sie alle waren verschieden. Ich bin sicher anders als meine Lehrer. Die Behauptung, man lernte exakt all das, was der Lehrer zeigte, und man vermittelte dieses Wissen genau so wie man es lernte, ist sicher bewundernswert, aber höchst unwahrscheinlich.

Vielen Dank nochmals Fred, für deine verständigen Beiträge und deine Bereitschaft, Fragen zu stellen. Wie du siehst, bringt mich das an meine Tastatur!

All the best,

Allen

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