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Diese Übung sieht sehr ähnlich aus wie der zuvor beschriebene für Shioda Sensei typische “Wurf”. Wenn Uke kraftvoll auf sein vermeintliches Opfer zukommt, öffnet dieses plötzlich den mit sich geführten Papierschirm, kasa, in Richtung Uke, der dadurch anscheinend heftig zurückgestoßen wird. 

Meiner Ansicht nach ist das eher eine Handlung als ein eigentlicher “Wurf”, aber das liegt wohl vor allem daran, dass Uke weiß was kommt.   

In diesem Fall verkürzt wiederum das den kasa führende “Opfer” die “Burgtreppe”. Allerdings entsteht hier kein physischer Kontakt mit Uke. Entscheidend ist hier ein schneller und unerwarteter visueller Kontakt. Bei uns Menschen ist die visuelle Wahrnehmung besonders betont, und ein großer Teil unserer körpereigenen Wahrnehmung findet über visuelle Reize statt. Entwicklungsgeschichtlich haben wir gelernt auf plötzliche Bewegungen zu reagieren insbesondere, wenn wir sie im Augenwinkel wahrnehmen. Das half uns zu unterscheiden, ob es sich um eine Bewegung unserer möglichen Beute handelte oder wir selbst die nächste Mahlzeit für jemand anderen sein würden.   

Das Stören des dynamischen Gleichgewichts macht sich beides zunutze. Uke nähert sich in einem eigenen Geh-Rhythmus. Unser vermeintliches Opfer unterbricht, stört diesen Rhythmus, indem es eine visuelle Barriere im Gesichtsfeld des Gegenübers öffnet. Wenn das gut ausgeführt wird, geschehen gleich mehrere Dinge. Zuerst ist da der Schreckmoment, der dazu führt, dass Uke sich für einen Moment versteift und dadurch seine dynamische Reaktion eingeschränkt wird. Die Angriffsabsicht tritt in den Hintergrund gegenüber der Notwendigkeit, sich der neuen Situation anzupassen. Wenn Uke mit dem Kopf zurückzuckt, werden mehrere Kilogramm Gewicht nach hinten beschleunigt, während der Schwung des Körpers weiter noch vorne geht.   

Der kasa sollte dabei das komplette Gesichtsfeld des Angreifers ausfüllen und ihm so die Sicht seiner Umgebung nehmen. Das für den Angreifer plötzliche Geschehen kann bei ihm dann eine vorübergehende Desorientierung und sogar ein kurzes Schwindelgefühl hervorrufen.   

Zudem nimmt der Angegriffene den kasa auch nicht wieder weg. Bei richtiger Anwendung wird er dem Angreifer auch nicht mit Kraft ins Gesicht gestoßen, und das aus gutem Grund. Bei einem heftigen physischen Kontakt kann leicht ein Trägheitswiderstand entstehen. Wir Menschen spüren Widerstand sehr schnell und reagieren leicht darauf. Käme es hier dazu, hätte der Angreifer eine gute Chance, sein dynamisches Gleichgewicht als Reaktion darauf wiederzuerlangen. Deshalb füllt der kasa den Raum, den der Angreifer durch sein Zurückprallen freigegeben hat, und nicht mehr.   

Auch wenn es sich nur um einen Papierschirm handelt, werden wir instinktiv alles daran setzen, nicht mit dem Kopf voran in diese plötzliche Wand zu laufen. Der Angreifer wird also mehr Mühe darauf verwenden, den Zusammenstoß mit dem Schirm zu vermeiden als einfach in ihn hinein zu rennen.   

An diesem Punkt führt das Endergebnis des gestörten Gleichgewichts dazu, dass der Angreifer fällt. 

In den meisten Fällen endet die Vorführung an dieser Stelle. Aber das ist nicht alles, was in einer tatsächlichen Situation passieren würde, und ich habe nie einen Geheimhaltungsschwur geleistet in Bezug auf derartige “Geheimnisse”. Ein Schwertträger würde den Schirm in der linken Hand halten, damit seine Schwerthand für alle Eventualitäten frei ist. Eine solche Eventualität liegt hier vor. Ohne groß herum zu reden, können wir festhalten, dass das “Opfer” nicht nur sein Kurzschwert ziehen könnte. Sondern er könnte dieses mit Leichtigkeit durch den Schirm stoßen und zwar aus einer für den Angreifer nicht feststellbaren Richtung. Sehr viele Techniken im Daito Ryu bieten sich für die Anwendung des Kurzschwerts an. 

In diesem Zusammenhang könnte unser vermeintliches Opfer natürlich auch eine Kraft entlang eines unerwarteten Kraftvektors ausüben. Hierzu betrachte ich eine bei Ueshiba Morihei vorherrschende Wurftechnik: ein gelegentlich berührungsloser Wurf. Dies in einem der nächsten Beiträge in dieser Serie mit Beispielen zur Störung des dynamischen Gleichgewichts.

(Übersetzung: Karl Breuer) 

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